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Runde Ecke - Ausgabe #69

„Der tödliche Pass“

Liebe Fußballkritiker,

zunächst einmal eine wichtige Klarstellung. Fußballkritik ist etwas anderes als ein kritischer Artikel über RB Leipzig. Unter Fußballkritik versteht man die Beurteilung des Fußballspiels anhand von Maßstäben. Wie die Philosophin Anne-Barb Hertkorn ausgeführt hat, sei Kritik und damit auch Fußballkritik „eine Grundfunktion der denkenden Vernunft und wird, sofern sie auf das eigene Denken angewandt wird, ein Wesensmerkmal der auf Gültigkeit Anspruch erhebenden Urteilsbildung.“


Viele Fußballjournalisten träumen von einem zweistündigen Exklusivinterview mit Pep Guardiola, andere vielleicht von einem Angelausflug mit Horst Hrubesch. Stefan Erhardt träumte davon, Peter Handke auf einem Dorfbolzplatz zu treffen und mit ihm darüber zu reden, warum "sowohl in seiner Prosa als auch in seinen Theaterstücken immer wieder Fußball auftaucht – als konkrete Szene, Metapher oder Motiv". Daher gründete er mit zwei Freunden 1995 das Fußballmagazin „Der tödliche Pass“.


Von anderen Fußballtiteln und sogar generell von fast allen anderen Zeitschriften unterschied sich der Tödliche Pass durch den hohen Anteil an Buchbesprechungen. Erhardt selbst hatte einmal eine große Rezension über Tempel der Körper geschrieben, eine "Ketzerschrift" des Sportsoziologen Peter Kühnst. In der Besprechung finden sich Sätze wie: "Die Transzendenz der individuellen Bedeutungslosigkeit, das ist das Geschäft der Religionen, aber auch des Sports." Erhardt sagte, er habe über die Parallelen von Religionskult und Fußballkult ja schon viel gelesen, aber noch nie auf so erhellende Weise wie bei Kühnst. Zu Beginn der Nuller Jahre hat sich Der Tödliche Pass mit dem Thema auch mal in einer längeren Geschichte befasst: Titelzeile damals: „Jesus lebt. Aber geht er auch ins Stadion?“. Heute geht leider selbst die Zeitschrift nicht mehr an den Start und berichtet „aus“ dem Stadion. Nach 25 Jahren war im Jahr 2021 „Schluss“.

DER TÖDLICHE PASS

DER TÖDLICHE PASS

Der Fußball ist nicht mehr der Fußball, der er mal war....

Schluss war auch für Günther Netzer als Fußballfernsehkritiker vor ein paar Jahren. Er verfolgte nicht direkt die gleichen rezessionsfokussierten Ansätze wie das Magazin „DER TÖDLICHE PASS“, aber dass ein oder andere überlieferte Zitat ist durchaus bemerkenswert. Würde man hier festhalten "die meisten Spiele, die 1:0 ausgingen, wurden gewonnen", würde es wahrscheinlich eine Reaktion der hier lesenden Fußballkritikerschaft geben (wahrscheinlich weniger, zu kompliziert – ein Versuch wars aber wert 😊). Der elegante ehemalige Mittelfeldregisseur und gelegentliche tödliche Passgeber „ergab“ sich als ARD-Experte einige Jahre seinem spitzfindigen Kommentatorenkollegen Gerd Delling. Immerhin wurde die beiden dafür im Jahre 2000 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Zudem erhielten sie im Mai 2008 in Wiesbaden für ihr „hohes sprachliches Niveau“ den Medienpreis für Sprachkultur. Eine Art kritische Betrachtung seines Metiers gelang Netzer schlussendlich als Co-Autor im Buch „Aus der Tiefe des Raumes“, in dem er Fußball als Drama, Blindheit, Fehlentscheidung, Rachlust und Tragödie gleichzeitig bezeichnete. Ziemlich viel für den armen Fußball!

"Der Kopf denkt, der Fuß versenkt." – der Reich-Ranicki der deutschen Fußballkritiker hat seit geraumer Zeit auskritisiert

Der Vertikalpass

Heute würde man wahrscheinlich den tödlichen Pass etwas neudeutsch Vertikalpass nennen. Horizontal kann jeder. Aber den Ball vertikal vorantreiben, im richtigen Moment in den Strafraum bugsieren, das kann nicht jeder. Leroy Sane oder Joshua Kimmich aus München können dies oder auch Florian Wirtz aus Leverkusen. Aber dass das selbst Robert Andrich kann, ist nicht selbstverständlich. Zu beobachten war dies im Spiel gegen Augsburg vor gut 1,5 Wochen. Mit einem gekonnten Lupfer leitete er ein cleveres Hackentor durch seinen Teamkameraden Lucas Alario ein, welches der Schlusspunkt zum höchsten Sieg am 20. Spieltag war.


Ob eine Rabona-Flanke auch als Vertikalpass durchgehen würde, ist wiederum eine andere Frage. Nur um dies kurz zu erläutern, Rabona oder umgangssprachlich „Adlerauge“, ist ein Begriff aus dem Fußballsport und bezeichnet einen Schuss, eine Flanke oder einen Pass, der durch Überkreuzen der Beine ausgeführt wird. Dabei bewegt sich das Schussbein hinter dem Standbein gegen den Ball. Solch eine Flanke versuchte diese Saison schon einmal André Hahn aus Augsburg und scheiterte stolpertechnisch sehr kläglich. Patrick Wimmer dagegen gelang ein solches Kunststück traumhaft in Frankfurt. Sein Mitspieler musste den Ball nur noch mit der Brust über die Linie drücken. Durch den Sieg der Bielefelder in der Commerzbank Arena ist die Mannschaft von der Alm auch so etwas wie der Gewinner dieses Spieltags. Taktik aufgegangen und die Abstiegsplätze verlassen.


Gewinner unseres Tippspieltages war ganz eindeutig André. Nach mageren 2 Punkten in der „Vorrunde“ waren es dieses Mal derer 20. Wenigstens ein Andrè konnte sein Adlerauge unter Beweis stellen (s.o.)! Insgesamt wurde ein überdurchschnittliches Ergebnis eingetippt. Lars, als weiterhin souveräner Leader, hatte mit 13 Punkten noch das schlechteste Ergebnis aller Tippfreunde. Für André bedeutete es gleichzeitig zwei Ränge nach oben. Auch Siggi und der bereits die letzten Male erwähnte Raphael kommen so langsam ins Rollen. Es läuft rund und der Abstand zu den Vorderleuten konnte die vergangenen Spieltage verringert werden. Siggi schaffte dabei das Kunststück seinen statistischen Mittelwert für die Kategorie „Punkte zur Spitze“ an den drei bisherigen Spieltagen im Jahr 2022 um genau -1 zu verschlechtern. Vertikaler Tippangriff sieht leicht anders aus. Das Gute für ihn, es besteht noch Hoffnung, denn am Ende des Tages zählt nur die Platzierung. Vielleicht macht er ja bald den nächsten Schritt in dieser Kategorie!

Ein Mittelfeldhaudegen wie Robert Andrich kann auch die feine Klinge; Chip-Ball = Lupfer = tödlicher Vertikalpass

Passgenau

So oder so ähnlich sollte es in den anstehenden Partien zugehen. Der horizontale, diagonale oder eben auch der steile Pass sollten ankommen, damit das Spiel gewonnen werden kann. Frei nach dem netzerischen Motto, ein 1:0 ist ein Sieg. Wenn am Freitag in Berlin die Tabellennachbarn Hertha und VfL Bochum aufeinandertreffen, kann dieses Prinzip gleich umgesetzt werden. Hoffentlich spielt dabei keiner den sogenannten falschen Pass, auch Fehlpass genannt. Beide Clubs geben als Vereinsfarben das Blau-Weiss an, was bei einer Blausehschwäche schon mal zu Schwierigkeiten führen kann. Das Problem hat man im Signal Iduna Park sicherlich nicht. Grellgelb (oder wie in den 90ern Neongelb) ist sicherlich von Rot-Schwarz unterscheidbar. Damit wären wir schon beim sog. Spitzenspiel dieser Runde. Der Tabellenzweite empfängt den Dritten. Zuletzt auffällige Leverkusener gegen hart arbeitende und damit kämpfende Dortmunder. Vielleicht spielt ja Mats Hummels wieder einen Franz-Beckenbauer-Gedenkpass mit dem Außenrist oder Patrik Schick stellt sich bei seinem möglichen neuen Arbeitgeber mit einem Spezialtor vor. Frei nach der Maxime: „Die schönsten Tore sind diejenigen, bei denen der Ball schön flach oben reingeht“.

Euch eine kritikfreie und passgenaue Restwoche


Euer Mehmet Tobias Scholl

Als Fußballkritiker kann man Wunden zufügen - Mit seinem Sinn für schwarzen Humor hatte Scholl einmal gesagt, er sei in Angst geraten, Gomez könne sich womöglich im Strafraum „wund gelegen“ haben