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Runde Ecke - Ausgabe #74

Der Raum jenseits der Ordnung

Liebe Fußballrealisten,

die Realität, sagt man, holt einen immer wieder ein. So auch wieder in diesen Tagen. Der Krieg in der Ukraine ist allgegenwärtig und beschäftigt uns alle aktuell. Was für ein Drama! Ein durchaus wichtiger Punkt dabei ist es, dieser Realität ins Auge zu sehen. Nun, ein Realist schätzt sich selbst nicht als Pessimisten ein. Er betrachtet die Dinge objektiv und realistisch. Sein Maßstab ist die Realität. Doch sein eigentlicher Maßstab ist seine Wahrnehmung der Realität und nicht die Realität selbst.


Ein solcher war im Fußball immer wieder Ewald Lienen. Auch wenn er einmal in seinem Leben mehr emotional als rational handelte. Jeder kennt wahrscheinlich die Geschichte von seinem aufgeschlitzten Oberschenkel in einem Bundesligaspiel 1981. Wie wild rannte er mit diesem offenen Schenkel auf Otto Rehagel, den Trainer der gegnerischen Mannschaft, zu und bezichtigte ihn, seinen Gegenspieler zu diesem Foul angestiftet zu haben. Darüber gibt es heute noch en masse Bilder im Netz. Jahre später relativierte er aber diese Szene, in dem er zugab, dass die Verletzung zwar schlimm ausgesehen habe, aber im Grunde vollkommen harmlos gewesen sei. Er änderte somit seine Wahrnehmung der Realität.


Wie so viele wechselte der bekehrte Fußball-Realist nach erfolgreicher Fußballkarriere ins Trainerbusiness und verwandelte sich in „Zettel-Ewald“, einem Trainer, der während der Spiele alle wesentlichen Beobachtungen auf Zetteln notiere. Auch erlebte er häufig, wie schnell es mit erfolgreichen Mannschaft wieder abwärts ging, wenn sie im Überschwang der Gefühle ihre Ordnung und den Bezug zur Realität vergaßen. Einst wurde Lienen auf eine These des argentinischen Weltmeistertrainers Luis Cesar Menotti angesprochen, für den Fußball eine "Mischung aus Ordnung und Abenteuer" ist. Das hat Lienen gut gefallen. Er übersetzte es auf seinen Fußball: Speziell bei Ballbesitz des Gegners "kommen wir ohne Ordnung nicht klar", sagte er. Aber man dürfe "nicht generell ins Schematische abgleiten", sondern müsse "über die Ordnung hinaus Raum für Gestaltungskraft und Individualismus schaffen". Der Mann wusste immer, dass es noch viel Raum jenseits der Ordnung gibt.

Ewald Lienen – immer streitbar, oft realistisch und heute erfolgreicher „Podcaster“
Der Sechzehner

Der Sechzehner

Podcast mit Ewald Lienen

Real-ität

Real bedeutet im Spanischen königlich. Real im Deutschen seht eher für sachlich oder nüchtern. So könnte man auch den Auftritt der Leverkusener in München bei den unangefochtenen Fußballkönigen Deutschlands bezeichnen. Sachlich und nüchtern ein Unentschieden erspielt und dabei noch ein oder zwei hervorragende Chancen auf Sieg zu stellen liegengelassen. Weniger sachlich, dafür mit viel Leidenschaft und Emotionen führte der VFB in der zweiten Halbzeit seine Gegner aus Gladbach vor. Dank eines Treffers ihrer „Nr. 9“ kam der lang ersehnte Sieg zustande. Auf den wartet nun die Hertha in diesem Jahr auch schon eine Ewigkeit. Nach der durchaus blamablen Vorstellung gegen die Eintracht aus Frankfurt, könnte der nächste Abstieg bald Realität werden.


Einen Abstieg kann es bei uns im Tipprunde nicht wirklich geben. Aber der Verlust des aktuellen Tippranges ist durchaus möglich. So geschehen bei Andrè und Lars. Die Spitzenpositionen verloren und damit vorübergehend nur noch in Lauerstellung. Diese Art von Realität hat auch Michael eingeholt. Nach ausrufezeichenverdächtigen 18 Punkten sind es heuer am Ende des noch nicht abgeschlossenen Spieltags geerdete 7, was ihn wieder auf Platz 7 zurück spülte. Nutznießer und gekonnter Samstagstippplaner (10 Punkte an diesem Tag) war damit Jochen alias Joschka. Folglich bildet er zusammen mit Andreas alias Siggi (gleiche Punktzahl am gleichen Tag) das berühmte Samstagtippkönigspaar.

Erst das zweite Saisontor, dafür ein sehr wichtiges – der Samstagskönig von Stuttgart

Reale Pläne

Solche sollten Gladbach und Hertha entwickeln, um jeweils eine reelle Idee an der Hand zu haben, wie man den anderen schlagen kann. Ein sog. 6 Punktespiel steht an. Denn Punkte gegen direkte Konkurrenten zählen einfach doppelt. Die entscheidende Frage wird in dieser Partie sein, wer wird zum Aufbaugegner des jeweiligen anderen. Umgekehrt ohne Plan wird es auch nichts für die Bayern in Hoffenheim. Julian Nagelsmann gibt ja vor, immer einen zu haben (der im Übrigen gegen Salzburg aufging unter der Woche). Gegen formstarke Badener könnte aber die wacklige Abwehr der Roten national wieder zur sog. Achillesferse werden. Für Hoffenheims Trainer Sebastian Hoeneß sollte dies ein Gedankenspiel wert sein. Wie kann man die Ferse des Gegners offenlegen? Diese gilt es auch für die Leverkusener im Derby gegen die Geißböcke zu finden. Aber Gerardo Seoane, der Schweizer Tüftler mit der Pomade im Haar, findet sicherlich einige pomadige Lösungen für sein Team.


Ein „haariges“ Spiel, das nicht nach Plan verlief (an welches ich mich im Übrigen noch sehr gut erinnere und damals begeistert vorm Fernseher saß), war das Spiel zwischen dem KFC Uerdingen und Dynamo Dresden am 9. März 1986. Bayer Uerdingen hatte das Viertelfinalhinspiel im Europapokal der Pokalsieger 1985/86 mit 0:2 verloren und lag in der heimischen Grotenburg-Kampfbahn zur Halbzeit – scheinbar aussichtslos – 1:3 zurück. Nach einem Foul gegen Dresdens Stammtorhüter, bahnte sich Uerdingen wie durch ein Wunder in der zweiten Halbzeit mit sechs Toren noch den Weg ins Halbfinale.


Schlussendlich bleibt uns nur noch die realistische Hoffnung, dass die Weltgemeinschaft bald mit großer Einigkeit in einer Art „zweiten Halbzeit“ das Regime unter Wladimir Putin „ausschaltet“.


Euch ein reelles und friedliches Wochenende


Euer Wolfgang Funkel

Ein erzwungener und damit „realer“ Torwartwechsel im Dresdener Team führte zum Wunder von der Grotenburg – mit beteiligt der Dreifachtorschütze Wolfgang Funkel